Ein Gespräch mit Oberrabbiner Pinchas Goldschmidt
Oberrabbiner Pinchas Goldschmidt war jahrelang der Oberrabbiner von Moskau und hat Russland nur kurze Zeit nach Beginn des russischen Angriffskrieges auf die Ukraine, das Land verlassen und ist nach Israel gezogen. Er ist Präsident der Europäischen Rabbinerkonferenz und erzählt uns im Gespräch, wie sich das jüdische Leben in Russland zu seiner Zeit verändert hat.
Bevor Sie nach Moskau gingen, war jüdisches Leben in Russland nicht erlaubt. Was waren das für Zustände zu der Zeit?
Oberrabbiner Goldschmidt: Am Ende der sowjetischen Zeit gab es keine wirkliche jüdische Gemeinde. Es gab Millionen Juden, die dort gelebt haben und es gab vielleicht ein Dutzend Synagogen in der Sowjetunion, die funktionierten. Es gab vier Rabbiner, die noch im Ostblock ausgebildet worden sind. Aber ansonsten gab es kein Gemeindeleben in Russland.
Sie sagen, es gab keine Infrastruktur. Wie hat sich das dann verändert?
Oberrabbiner Goldschmidt: Das war zu der Zeit unsere Aufgabe, diese jüdische Infrastruktur zu bauen. Es begann bei Kindergärten, Schulen, Sozialorganisationen, rabbinische Hochschulen, Universitäten, politische Organisationen für die Gemeinde. Wir haben alles von Null aufgebaut.
Was waren Ihre Beweggründe überhaupt nach Russland zu gehen?
Oberrabbiner Goldschmidt: Es war eine Challenge. Wir glaubten in diesem Augenblick nicht, dass die Sowjetunion zerfallen wird. Aber wir glaubten, dass sich jetzt für eine gewisse Zeit ein Fenster öffnen wird und wir wollten diese Zeit jetzt nutzen, um wieder einen Kontakt zu den Millionen von Juden herzustellen.
Was hatten Jüdinnen und Juden damals für ein Leben dort?
Oberrabbiner Goldschmidt: Sie waren wie alle anderen sowjetischen Bürger. Sie lebten ohne religiöse Gemeinden. Das einzige Jüdische, was es vielleicht noch gab, waren jüdische Friedhöfe. Und es gab auch Tausende Menschen, die in der Schlange standen, um Mazza zu kaufen für Pessach. Das war ein jüdisches Symbol. Dazu gab es auch eine Protestbewegung an Simchat Tora vor der großen Moskauer Synagoge, in der ich auch Rabbiner war. Zehntausende Juden, meistens Studenten, haben sich dort getroffen, um zu tanzen und sich kennenzulernen. Das war eigentlich die einzige Manifestation des Judentums, die möglich war.
Was für ein Leben hatten Jüdinnen und Juden in Russland vor dem russischen Angriffskrieg auf die Ukraine?
Oberrabbiner Goldschmidt: Man kann wirklich von einer jüdischen Renaissance sprechen. Die große Mehrheit ist zwar ausgewandert, aber es gibt auch hunderttausende Juden, die dortgeblieben sind. Es gab daher wirklich ein Aufbau des jüdischen Lebens und ich glaube, dass man hier in Deutschland auch neidisch ist, was in Russland aufgebaut wurde, mit jüdischen Schulen. Meine Frau und ich haben alleine zwei jüdische Schulen aufgebaut mit mehr als 700 Kindern. Dazu haben wir auch Talmud-Hochschulen und Studentenorganisationen errichtet. Es gab wirklich ein tolles jüdisches Leben. Als ich Russland verlassen habe, gab es mindestens 10 Koscher-Restaurants. Wo gibt es hier 10 Koscher-Restaurants in Europa.
Sie haben mehr als drei Jahrzehnte dort gelebt und haben viele Veränderungen herbeigeführt. Aber Sie sind im Februar nach Israel gegangen, was waren Ihre Beweggründe?
Oberrabbiner Goldschmidt: Es wurde Druck auf die Gemeinde ausgeübt, den Krieg zu unterstützen. Und ich war nicht bereit das zu machen. Wir haben sofort einen Fonds als Unterstützung für die jüdischen Flüchtlinge aus der Ukraine gegründet. Und ich habe Russland zwei Wochen nach Beginn des Krieges verlassen und ich habe den Krieg offen kritisiert. Und das ist heute ein krimineller Verstoß gegen das russische Gesetz. Und deshalb musste ich auch abdanken.
Glauben Sie, dass der Antisemitismus in Russland durch den Angriffskrieg stärker wurde?
Oberrabbiner Goldschmidt: Antisemitismus wurde viel stärker. Ich rede vom offiziellen Antisemitismus und da bekomme ich viele Berichte. Vor einer Woche wurde im Nationalen Sicherheitsrat Chabad angegriffen, als eine Sekte, die versucht die Welt zu übernehmen. Die Regierung ist auch dabei die Jewish Agency, die Sochnut, zu schließen. Nicht nur der Staatsantisemitismus, sondern auch der Straßenantisemitismus, ist viel stärker geworden, so wurde mir berichtet. Sie sagen: die ganze Welt ist gegen uns, jeder hasst uns und die Juden haben den Krieg auch nicht befürwortet.
Also würden Sie Jüdinnen und Juden auch empfehlen, das Land zu verlassen?
Oberrabbiner Goldschmidt: Ich glaube, dass meine Abreise vielen Juden den Weg gezeigt hat. Zehntausende von Juden sind schon fort und ich denke, dass viele weitere auf dem Weg sind.
Sie sind Präsident der Europäischen Rabbinerkonferenz und bekommen Eindrücke, wie jüdisches Leben in vielen Ländern gelebt wird. Wie würden Sie den Status quo des jüdischen Lebens in Deutschland aber auch in Europa betrachten?
Oberrabbiner Goldschmidt: Wir sehen, dass die Zahl von Juden in den letzten Jahren zurückgegangen ist – auch wegen des Terrorismus und des Antisemitismus in Frankreich und in Belgien. Aber auch die Frage der Freiheit der Religion ist heute einer der größten Probleme für das europäische Judentum. Und nach den letzten Befragungen, ist das einer der größten Gründe, warum Juden Europa verlassen.
Das Interview führte Zeev Reichard