Ein Gespräch mit Michel Friedman
Michel Friedman ist eine Persönlichkeit, die in Deutschland vielen Menschen, vor allem Jüdinnen und Juden, ein Begriff ist. Durch eine faszinierende Rhetorik gelingt es ihm immer wieder die richtigen Worte zu finden. Bei seinem Besuch in Düsseldorf im Rahmen einer Veranstaltung des Albert-Einstein-Gymnasiums, haben wir mit ihm im Rahmen unseres Podcasts „Un(d)orthodox – der jüdische Podcast für Unschlüssige“, gesprochen und erfahren, was Fremdsein für ihn bedeutet, warum er in Deutschland geblieben ist und warum die Liebe ihn gerettet hat.
Sie haben Ihr neues Buch „Fremd“ genannt. Wie fremd fühlen Sie sich in Deutschland? Und gibt es einen Ort, an dem Sie sich weniger fremd fühlen?
Michel Friedman: Ich bin in Paris geboren, ich lebe in Deutschland, meine Eltern kamen aus Polen. Ich habe mich von Anfang an als fremder Mensch in dieser Welt gefühlt und ich glaube, dass jeder Mensch in dieser Welt fremd ist und bleibt. Und deswegen versuchen wir ja immer in irgendein „Wir“ einzutreten. Wir sind Mitglied einer Gemeinde, wir sind Mitglied im Sportverein, wir sind Mitglied einer politischen Partei, wir machen eine Familie, aber die Eintrittskarte in dieses „Wir“ ist sehr oft das „Ich“, das man hinterlegen muss. Und dann ist man im „Wir“, aber man ist nicht mehr der, der man war. Die Fremdheit und die Traurigkeit, in der ich in dieser Welt lebe, hat mit meinen Eltern zu tun, die die Shoah überlebt haben. Der Rest meiner Familie, bis auf meine Großmutter, ist gestorben. Und ich bin auf einem Friedhof aufgewachsen. Mein Blick in diese Welt ist: ich verstehe nicht, warum Menschen anderen Menschen böses antun. Ich verstehe es nicht. Und es gibt keine Antwort, die mich je befriedigt hat. Außer, so ist der Mensch. Und ich bin nicht bereit, diese Antwort zu akzeptieren, weil sie ist so defaitistisch, sie ist so pessimistisch, sie ist ohne Hoffnung und Zukunft. Wenn man aber diese Antwort nicht akzeptiert, also weiter auf der Suche bleibt, bleibt man ein Fremder. Suchen, zweifeln und fragen, isoliert einerseits und bringt aber Erkenntnis andererseits. Und ich war schon als Kind Einzelgänger und ein Land oder eine Heimat kann ich mir nicht vorstellen. Aber ich würde Sie gerne fragen: was ist denn das Gegenteil von Fremd?
Vielleicht etwas wie Heimat? Ein Ort, an dem man sich wohl fühlt?
Michel Friedman: Aber in so einem Mikrokosmos gibt es drumherum auch einen Makrokosmos. Heimat ist ja nur ein Ort. Und ich glaube nicht, dass diese Synchronisation des Bedürfnisses, das Sie formulieren, in der realen Welt möglich ist. Ich würde sagen, dass die einzige Medizin, die ich jedenfalls in meinem Leben gegen das Fremdsein gefunden habe, ist die Liebe.
Fremd ist ja doch etwas negativ behaftetes. Würden Sie sich dennoch als optimistischen und positiven Menschen beschreiben?
Michel Friedman: Zunächst möchte ich darauf hinweisen, dass wenn ich von fremd spreche, ich von einer neutralen Zustandsbeschreibung spreche. Ich habe mich manchmal, wenn ich dieses Fremdheitsgefühl empfunden habe, sehr positiv konnotiert gefühlt. Und ich habe mich sehr gewundert über die, die sagten, sie seien nicht fremd und dann habe ich mir angeschaut, mit welchen Mitteln sie zu diesem Ergebnis gekommen sind. Es ist ein sehr hoher Preis, den man für das Wir bezahlt. Das Wir hat sehr hohe Eintrittskarten. Und im Prinzip will und muss das Wir einen Teil des Ichs abschleifen oder abrunden. Das Ich muss sehr opportunistisch sein, weil würde es eine individualistische Idee des Wirs geben, dann würde das Wir wieder in tausend Teile zerspringen. Also, nein, es ist kein negativer Begriff aus meiner Sicht. Es ist eine Zustandsbeschreibung, die manchmal sehr traurig macht, aber manchmal bin ich auch ganz froh, dass ich fremd bin, wenn ich mir anschaue, was die Wirs so alle tun.
Wir haben schon eben die Traurigkeit innerhalb Ihrer Familie nach der Shoah angesprochen. Dennoch haben sich Ihre Eltern dazu entschieden nach Deutschland zu kommen. Und auch Sie haben sich dann entschieden, in Deutschland zu bleiben. Was war der Grund dafür?
Michel Friedman: Meine Eltern sind aus ökonomischen Gründen aus Paris nach Deutschland gekommen. Ich habe das nie verstanden und ich verstehe es bis heute nicht. Es war Mitte der 60er Jahre. Die Bundesrepublik Deutschland war getränkt von Nazi-Deutschen, auch in den Institutionen. Ich bin in Deutschland geblieben, meiner Eltern wegen. Holocaust-Überlebende haben, wenn sie Kinder bekommen haben, sie erstens idealisiert, aber zweitens war es deren Lebenssinn. Und als ich mal weggehen wollte nach New York, hat meine Mutter mich gefragt, das steht auch im Buch “Fremd”, ob ich sie umbringen will. Ich habe damals eine Entscheidung getroffen und bin geblieben. War sie gut? Das sind Diskussionen, wie was wäre, wenn. Sie bringen überhaupt nichts und deswegen bin ich da. Sonst wäre ich in New York. Vielleicht unter der Brooklyn Bridge, weil ich ein Obdachloser geworden wäre. Vielleicht wäre das ein ganz furchtbares Leben und ich wäre schon tot. Deswegen kann man in so einer Situation dann nur einem Menschen, der mich fragt, antworten: ich bin geblieben, weil ich mich entschieden habe, für meine Eltern da zu sein. Ich habe die Verantwortung für ihr Leben mit übernommen. Ich bin übrigens gescheitert, weil kein Kind kann das leisten, was da erwartet wird. Ich bin gescheitert, aber ich habe es versucht. Das heißt, wäre ich nach New York gegangen, wäre ich vielleicht an meinem schlechten Gewissen zugrunde gegangen. Bin ich in Deutschland geblieben, bin ich zugrunde gegangen, weil ich in Deutschland geblieben bin. So gesehen, man weiß nicht, was der beste Weg ist.
Sie haben vor über 20 Jahren in einem Interview Marcel Reich-Ranicki gefragt, ob er an den Menschen und an die Liebe glaubt, weil er auf der einen Seite viel Positives aber auch sehr viel Negatives erlebt hatte. Deswegen würde ich jetzt gerne auch die Frage an Sie stellen. Glauben Sie an den Menschen, glauben Sie an die Liebe und glauben Sie, dass der Mensch eben auch lernen kann?
Michel Friedman: Ich glaube an den Menschen. Würde ich nicht an den Menschen glauben, würde ich auch nicht an mich glauben, denn ich bin auch ein Mensch. Ich mag es aber an mich zu glauben. Das zwingt folgerichtig, dass ich an die Menschen glaube. Aber ich tue es nicht nur deswegen. Was Menschen zustande bringen, sind unglaubliche Wunder in den Jahrtausenden. Was Menschen zustande bringen, sind unglaubliche Zerstörungen in den Jahrtausenden. Also ich glaube an den Menschen. Glaube ich an die Liebe? Also im Sinne der Religionen, ein ewiges Leben, eine ewige Treue, eine ewige Liebe – nein. Glaube ich an die Liebe? Ja! Weil die Liebe, wenn man sie übersetzt, bedeutet, Zugewandtheit. Der andere Mensch ist einzigartig und man selbst will alles tun, damit der andere glücklicher ist mit mir als ohne mich. Und ich liebe diesen Gedanken und ich muss ehrlich sagen, in meiner Ehe, die jetzt fast 20 Jahre dauert, habe ich keinen Augenblick bedauert, dass ich meiner Frau eine Liebeserklärung gegeben habe.
War die Liebe auch der Grund, dass sie aus ihrer depressiven Phase wieder herausgekommen sind, wenn es denn so ist?
Michel Friedman: Also, wenn Sie ein trauriger Mensch sind, hilft Ihnen nicht einmal die Liebe. Dazu braucht es mehr. Es braucht Arbeit, Therapie, professionelle Hilfe. Das ist ja keine Eintagsfliege. Es ist ein Unterschied, ob jemand sagt: ich bin traurig heute, seit einer Woche liege ich im Bett. Oder ob jemand von Kindheit an eine chronische Traurigkeit erlebt, von der ich mich auch nie erholen werde. Ich sage immer gerne, dass jedenfalls seit ich eine Familie habe, ich der Glücklichste unter den Unglücklichen bin.
Es ist schön, dass Sie einen Weg aus dieser negativen Phase gefunden haben.
Michel Friedman: Es ist eine selbstzerstörerische Phase. Für andere Menschen konnte ich 20 Stunden alles geben, für mich zu wenig. Allein, dass ich mich nicht für den Vorsitz des Zentralrats der Juden in Deutschland bewerbe, zeigt ja, dass ich andere Prioritäten setze. Nicht, dass sich jetzt einige zu früh freuen. Ich lebe sowieso dynamisch. Ich habe nochmal Philosophie studiert, ich habe eine Professur an der Universität, ich leitete ein Center für European Studies, ich schreibe Bücher, ich höre nie auf mich weiterzuentwickeln, weil will ich mich mit mir langweilen? Weitermachen, neues machen, aufbauen, ich finde das Leben ist voller Türen, die man öffnen sollte. Und man sollte keine Angst haben, eine Tür zu öffnen. Man sollte Angst haben, wenn man es nicht mehr tut.
Ihre Eltern gehörten tatsächlich zu den Jüdinnen und Juden, die von Oskar Schindler gerettet wurden. Einige Geschichte, die wie ich glaube, jeder und jede in diesem Land kennen, allein schon durch den Geschichtsunterricht in den Schulen. Und Sie haben ihn auch kennengelernt, er war Ehrengast auf Ihrer Bar Mitzwah. Was konnten Sie von dieser Persönlichkeit lernen?
Michel Friedman: Es ist ganz einfach, dass der Satz: was kann denn der Mensch schon tun? Was kann der Mensch schon gegen die da oben tun? Dass diese Sätze feige Ausreden sind. Wenn er 1943 in Polen helfen konnte und 1000 Menschen retten konnte, was hätte man 39, 38, 37, 36, 35, 34, 33 tun können, dann hätte es Auschwitz nicht gegeben. Aber das ist etwas, worüber wir auch heute miteinander reden müssen. Diese „Wehret den Anfängen“-Floskel bedarf Handlungen. Und jeder der Zeuge unserer Zeit ist und nichts tut, macht sich schuldig. Und wenn man dann in 20 Jahren erzählt, ja was hätte ich denn schon tun können, und dass noch in einer Demokratie, dann muss ich ganz ehrlich sagen, diese Selbstlüge läuft nicht.
Was geht in Ihnen heute im Jahr 2022 vor, wenn Menschen im Land der Täter auf die Straße gehen und antisemitische Hassparolen kundtun?
Michel Friedman: Mein Herz zerreißt, tiefe Traurigkeit, aber keine Hilflosigkeit bitte, auch kein Selbstmitleid bitte. Aber ich spreche über jüdisches Leben, und das gibt es auch ohne Antisemitismus. Gäbe es nämlich nur jüdisches Leben mit Antisemiten, möchte ich so ein Leben ehrlich gesagt nicht leben. Also: was ist jüdisches Leben? Erstens ist jüdisches Leben in Deutschland so plural wie es das nie war, so jung wie es das nie war. Die Generation der 20 bis 35-Jährigen hat eine ganz andere Sozialisation, allein schon, weil die Eltern keine Holocaust-Vergangenheit haben, aber auch, weil viele Menschen aus der ehemaligen Sowjetunion hierher immigriert sind, die Deutschland und Hitler als Kriegsgegner kennengelernt haben, also auf Augenhöhe – Militär gegen Militär. Und, weil die Bereitschaft als jüdischer Mensch nach Deutschland zu kommen, so breit gestreut ist, wie noch nie. Und dieser Pluralismus ist etwas, was ich zutiefst liebe, weil ich noch nie Angst vor meiner Vielfalt hatte, ich habe immer nur Angst vor meiner Einfalt und das gilt aber auch für andere Menschen. Und diese Vielfalt ist größer denn je. Nichtsdestotrotz ist jüdisches Leben bis noch vor einigen Jahrzehnten konnotiert gewesen mit dem religiösen Leben. Jude ist eine Religion. Diesen Konflikt, den Sie eingeführt haben, ist eine wie ich finde, noch nicht genug diskutierte Frage in den Jüdischen Gemeinden. Wie identifiziere ich mich als Jude auch nach innen, auch nach außen, wenn es nicht meine Religion ist. Also wenn ich nicht an G“tt glaube oder an Religion, was nicht wenige Jüdinnen und Juden tun. Alles, was man dann dazu erzählt, will ich gar nicht bewerten. Ich bin selbst nicht religiös, aber es fällt mir leichter, weil ich Kind von Holocaust-Überlebenden bin und mein Vater vor der Shoah ein Shtetl-Jid war, der tiefreligiös verankert war. Und als ich ein Kind war und wenn wir dann an Rosch Haschana und Jom Kippur in die Synagoge gingen, dann hat er gebetet, wie ich mir das vorgestellt habe, dass man als frommer Jude beten muss. Dass wenn wir aus der Synagoge raus gegangen sind, er unter Umständen, ich will nicht sagen, was er gemacht oder gegessen hat, dass er das dann hinter sich ließ, weil die Shoah sein Leben unterbrochen hat und er eine Lernkurve für sich entwickelt hat. Aber das war für mich immer noch eine Substanz, die ich mitbekommen habe. Und wenn ich heute sage, dass ich nicht religiös bin, weiß ich trotzdem, was ich unter Judentum verstehe. Das ist im Jahre 2022 für 20- oder 30-Jährige schwerer geworden und ich rate darüber intensiv zu diskutieren und bitte nicht zu heucheln, nicht zu lügen, nicht irgendwelche Standardformeln zu bringen, damit Papa und Mama sagen, oj waj das Kind ist gerettet.
Das Interview führte Zeev Reichard
© Foto / Nicci Kuhn