Ein Gespräch mit Hannah Arbitmann
Hannah Arbitmann ist orthodoxe Jüdin und arbeitet als Fachärztin an einer der größten Geburtskliniken Deutschlands. Dort ist sie unter anderem vollqualifiziert für alle Risikogeburten, für alle Schwangerschaftskomplikationen und alle Frühgeburten. Im Podcast „Un(d)orthodox – der jüdische Podcast für Unschlüssige“ erzählt sie uns, welche Herausforderungen der Alltag als praktizierende Jüdin in einer nicht-orthodoxen Gesellschaft so mit sich bringt.
Kannst Du uns zu Beginn etwas über Dich erzählen?
Hannah Arbitmann: Ich habe in Tübingen studiert und bin seit 2011 als Ärztin tätig. Über ein paar Stationen bin ich dann im Ruhrgebiet, dann in Frankfurt gelandet. Ich arbeite mittlerweile als Fachärztin an einer der größten Geburtskliniken Deutschlands. Wir sind vollqualifiziert für alle Risikogeburten, für alle Schwangerschaftskomplikationen und alle Frühgeburten. Und das ist auch bei uns ein großer Schwerpunkt der täglichen Arbeit. Die Schwangerschaften, wo nicht alles optimal verläuft und es viel Unterstützung braucht und wo immer wieder große, schwierige Entscheidungen anstehen. Die Ärzte sind deshalb vergleichsweise viel in die aktive Geburtshilfe involviert. Ich habe ursprünglich eine sehr breite gynäkologische Ausbildung gemacht. Mittlerweile setze aber den Schwerpunkt auf die Geburtshilfe, was für mich total sinnvoll ist, weil das so speziell ist und weil ich das auch liebe. Das ist eine unglaublich spannende und dankbare Arbeit. Privat bin ich mittlerweile verheiratet und habe eine kleine Tochter. Ich bin damals nach Frankfurt gekommen wegen der Gemeinde. Ich hatte einen langen Weg hinter mir, in dem ich mich immer mehr getraut habe, religiös so authentisch zu leben, wie es für mich stimmig war. Man kann dazu orthodox sagen, ich würde mich eher als „thora observant“ identifizieren. Und ich finde bei kleinen Gemeinden kommt man an die Grenzen, was man umsetzen kann. Und ich bin dann primär nach Frankfurt gekommen, weil hier einfach viel mehr Infrastruktur war und wie es dann so oft ist, wenn man die Entscheidung getroffen hat, das zu priorisieren, was einem wirklich wichtig ist, dann ist alles andere plötzlich genau da, wo es sein sollte. Ich habe dann auch für mich genau die richtige Klinik gefunden, in der ich sehr glücklich bin.
Wie bist Du zur Medizin gekommen?
Hannah: Das kam in der Teenagerzeit. Wie das ursprünglich losging, kann ich gar nicht mehr so genau sagen. Für mich war immer dieses klassische Klischee klar: so irgendwas mit Menschen und irgendwas Soziales. Ich komme auch aus einer Familie, in der das sehr hochgehalten wurde, dass man nicht primär arbeiten geht, um letztendlich möglichst viel Geld verdient zu haben, sondern, dass es einen Sinn haben muss. Vor allem mit dem Hintergrund, wenn man das Privileg hatte, einen guten Bildungsabschluss zu erhalten, dann muss man damit auch etwas für die Gesellschaft machen. Meine Eltern sind beide im Bildungsbereich tätig. Meine Mutter ist Lehrerin und mein Vater ist Psychologe. Und dann habe ich ein Schülerpraktikum gemacht, was so heute leider nicht mehr möglich ist. Ich wurde mit 16 Jahren in eine Herz-Operation geschickt. Und es ging auch ordentlich blutig zu und da habe ich mir gedacht, wenn du hier nicht umkippst, dann kriegst du das irgendwie hin.
Es ist ja auch ein durchaus jüdischer Gedanke, dass man sagt, man ist nicht hinter dem Geld her, sondern man möchte die Welt verbessern – Stichwort „Tikkun Olam“.
Hannah: Ich glaube auch, es ist kein Zufall, dass es traditionell immer viele jüdische Ärzte gab. Es wurde aus jüdischer Sicht viel früher als etwas Positives gesehen wurde, zu heilen. In der Realität muss man natürlich einsehen, dass es nicht immer so romantisch ist. Medizin muss heute leider ganz viel mit Wirtschaftlichkeit zu tun haben. Es hat auch viel mit Politik und Verwaltung zu tun. Aber es gibt dennoch immer wieder diese Momente, auch, wenn es nur alle paar Monate der Fall ist. Wenn man denkt, dass es heute einen Unterschied gemacht hat, dass ich morgens aufgestanden bin und zur Arbeit gegangen bin. Man hat natürlich auch die Momente, dass man nach Hause geht und denkt, das hätte jemand anderes besser gemacht. Und das muss man aushalten und ich glaube, da gibt die Religion einem auch sehr viel Halt, wenn man den Bezug hat. Weil es ist sehr schwierig auszuhalten, die Momente, wo man weiß, dass man etwas ehrlicherweise nicht optimal gemanagt hat. Und das passiert jedem. Aber es gibt auch immer wieder die Situationen, wo man weiß, dass man einen Unterschied und etwas Gutes gemacht hat. Und das ist ein immenses Privileg.
Bist Du erst später orthodox geworden?
Hannah: Ja, ich bin erst später orthodox geworden. Ich habe mich eigentlich damit beschäftigt, seitdem ich ein religiöses, ethisches Bewusstsein hatte. Und ich hatte relativ früh für mich diese Erkenntnis, dass es, wenn, dann nur orthodox für mich Sinn macht. Aber das war für mich im Alter von 15 oder 16 Jahren noch zu viel. Es kamen dann bei mir zunächst Fragen auf, wie ich das meinem Umfeld und meiner Familie vermitteln soll und wie ich das mit dem Studium vereinen kann. Das blieb in meinem Hinterkopf und das ging auch nicht weg. Und irgendwann habe ich mir selber eingestanden, dass ich etwas aufschiebe. Und dann habe ich angefangen immer mehr anzunehmen. Ich habe mir zunächst eingestanden, dass es ein Prozess wird und ich jetzt nicht plötzlich über Nacht den Schabbat halten werde. Aber ich habe mir vorgenommen, mich jedes Mal ein bisschen mehr daran zu halten. Und dann im Laufe meiner ersten zwei Berufsjahre war es dann doch schnell so, dass sich das komplett natürlich und normal angefühlt hat. Und dann stand natürlich auch die Entscheidung an, wie gestaltet man jetzt den Alltag, dass es auch passt und möglich ist.
Wie sieht Dein jüdischer Lifestyle aus?
Hannah: Auf dem ersten Blick sind es vielleicht Äußerlichkeiten, die einem gerade als Anfänger, immens wichtig sind. Inzwischen sind es Reflexe im Alltag. Wenn ich einen Schluck Wasser trinke und dann ist es klar, dass ich vorher die Beracha sage. Da denkt man auch nicht darüber nach. Ich merke auch, dass sich meine Sprache verändert hat. Das war für mich eine große Veränderung, dass wenn man eine Hässlichkeit und eine Rücksichtslosigkeit in der Sprache zulässt, dass auch etwas im Kopf verändert. Ich habe mich erst dazu zwingen müssen, aber ich habe dann auch gesehen, dass sich sehr viel in mir selbst auch verändert hat. Das ist etwas, worüber ich sehr dankbar bin. Es ist hier in Frankfurt zum Glück auch so, dass der jüdische Lifestyle heißt, dass sich das Leben um den jüdischen Alltag, das jüdische Jahr, kreist. Die Freizeit, die man als Ärztin hat, spielt sich dann schon primär in einem jüdischen Setting ab. Und das tut auch gut.
Du trägst eine Haarbedeckung, die auch offensichtlich ist. Man kann das nicht verstecken, wie eine Kippa unter einer Kappi. Wie wurde das in der Klinik aufgenommen?
Hannah: Das Bewerbungsgespräch mit der Haarbedeckung habe ich tatsächlich noch nicht erlebt. Das wäre natürlich interessant, falls ich den Arbeitgeber nochmal wechseln sollte, wie das dann aussehen würde. Diese Frage stelle ich mir auch manchmal. Ich bin schon als orthodoxe Frau an den Job gekommen, aber zu dem Zeitpunkt war ich noch unverheiratet. Beim Klinikwechsel habe ich mich auch entschieden, dass ich das ganz offen kommuniziere. Das war daher schon notwendig, weil ich mir bewusst eine Klinik mit einem Schichtsystem gesucht habe, die es mir ermöglicht, am Schabbat nicht zu arbeiten. Das heißt, ich musste es relativ früh kommunizieren. Und man fällt doch auf durch die Kleidung – und das ist schon erstaunlich. Obwohl man sich als Klinikarzt jeden Morgen umzieht und die Arbeitskleidung trägt, die Kollegen kriegen das mit. Nach ein paar Monaten kommt der Erste und fragt, ob ich immer Röcke trage. Es fällt auch auf, dass man nicht alles isst oder fast nichts isst. Es fällt auf, dass man am Samstag nicht mit ausgeht. Es war daher auch kein Outing mehr als religiöse Frau, das war schon längst klar. Ich war furchtbar nervös, als das dann anstand. Ich hatte mit meinem jetzigen Mann über die Haarbedeckung gesprochen. Er sagte damals zu mir, dass er nicht mal sagt, was er sich wünscht, weil es meine Mitzvah ist und schon, wenn er mir sagt, was er gut findet, ist da Druck da. Für mich war aber immer klar, wenn ich mich entscheide, religiös zu leben, will ich es auch tragen. Es gehört für mich dazu. Das ist etwas, was ich liebe. Das ist tatsächlich eine meiner liebsten Mitzvot, die mir nie schwergefallen ist. Aber dieser Moment zu meinem Chef zu gehen, war schon sehr beängstigend. Ich habe es ihm nicht als Frage gestellt, sondern ihm mitgeteilt, dass ich meine Haare bedecken werde und wir gerne gemeinsam überlegen können, in welcher Form das am besten ist. Und dann tatsächlich zu meinem immensen Erstaunen, und großen Respekt an meinen Chef, aber ich glaube, das kam auch von Haschem, denn die Mediziner-Welt ist eigentlich sehr konservativ. Er guckte mich dann nur ganz erstaunt an und fragte mich, was er damit zu tun hat und wo da jetzt genau sein Problem ist. Er sagte zu mir, dass ich das machen soll, was sich für mich gut anfühlt und ich solle ja hier auch authentisch auftreten. Das war tatsächlich nicht das, was ich erwartet hatte. Ich muss auch realistisch zugeben, dass es nicht bei jedem Chef der Fall gewesen wäre. Aber insgesamt habe ich die Erfahrung gemacht: wenn man mit einem gewissen Selbstbewusstsein auftritt und mit einer Selbstverständlichkeit und auch bereit ist, sich zu öffnen und Dinge preiszugeben, dann wird das oft sehr viel besser aufgenommen, als wenn man sich versucht, sich irgendwie durchzumogeln. Ich habe das Gefühl, dass die meisten Menschen ein unheimlich gutes Gespür dafür haben, wenn jemand nicht authentisch ist. Das schafft eher ein negatives Gefühl. Das mit meinem Tichel habe ich zum Beispiel von Anfang an offen gesagt, hatte auch mit den Kollegen darüber geredet. Da war sicher eine gewisse Verwirrtheit da. Und klar gibt es dann diese besorgten Kolleginnen, die dann 30-mal nachfragen, ob das nicht furchtbar unbequem und heiß ist – und ich dann sage, dass es eigentlich viel bequemer als ein Pferdeschwanz ist. Aber die Mehrheit nimmt das dann so an und denkt sich, die macht halt ihr Ding und offensichtlich geht es ihr gut damit. Bei den christlich-deutschen Patienten habe ich manchmal das Gefühl, dass sie es häufig nicht verstehen. Die muslimischen Patienten verstehen es sofort. Da ist dann manchmal auch ein ganz anderes Vertrauensverhältnis da. Die kommen oft gezielt zu mir und fragen dann auch, ob ich Muslima bin und ich sage dann, dass ich orthodoxe Jüdin bin und wir das auch machen. Und da ist dann oft eine Bindung da und das ist ganz schön. Ich kann mich an ein negatives Beispiel erinnern. Der Ehemann einer Patientin, der auf die Privat-Sprechstunde wartete und schon penetrant das Cover des Buches „Deutschland schafft sich ab“ nach oben hielt und da wurde alles an Verachtung in seinen Blick geworfen, was irgendwie ging. Offenbar wurde ich da verwechselt.
Was gibt es ansonsten noch für Besonderheiten, die Dir im Alltag begegnen?
Hannah: Also die Dienstplanung ist sicherlich komplizierter, da habe ich dann auch die eine oder andere schlaflose Nacht. Während sich die meisten freuen, dass Pessach oder Schawuot auf ein Wochenende fällt, kriege ich dann Schweißausbrüche, wenn ich in den Kalender gucke. Weil die Wochenend-Dienste ja auch irgendwie verteilt werden müssen. Das ist dann auch schon ziemlich anstrengend. Und das geht auch nur, wenn man bereit ist, das anders auszugleichen. Ich übernehme dann zum Beispiel mehr Sonntage als andere. Wenn jemand einen Dienst tauschen muss, bin ich die Erste, die dann hilft, weil ich einfach weiß, dass mir die anderen extrem entgegenkommen. Und weil ich da sehr auf das Wohlwollen anderer angewiesen bin. Das ist manchmal auf logistisch sehr aufwendig, das noch hinzukriegen. Gerade im Sommer im Nachtdienst, wo ich nur mit meinem Schabbesgürtel zur Klinik gelaufen bin und mein Mann mir dann drei Stunden später mein Essen gebracht hat für die 14-Stunden-Schicht – damals ging das noch, da hatten wir noch keine kleine Tochter. Mein Mann ist der Einzige, den alle Kollegen kennen von den Eheleuten. Es ist einfach mehr Planungsaufwand, weil man einfach zwei Welten vereinen muss, die manchmal nicht zusammenpassen. Natürlich bleibt man ein Stück weit aus dem allerengsten Kreis etwas draußen, was die Freundschaften betrifft. Ich habe ganz wunderbare Freundschaften zu Kollegen und Kolleginnen, das ist ein Job, der auch zusammenschweißt. Aber klar, ich kann eben nicht samstags zur Hochzeit kommen oder gehe auch nicht am Samstag mit in den Club, man bleibt so einen Hauch anders. Und das merkt man schon. Natürlich gibt es auch die Situation, dass man in der Klinik dann der Museumsjude ist. Dass man neue Kollegen gerade einmal zwei Minuten kennt und dann auch schon ganz private Fragen kommen. Und das ist auch ganz schön anstrengend. Manchmal hat man dann auch keine Lust mehr, wenn man gerade versucht einen Arztbrief fertig zu kriegen, dann auch das Prinzip Kaschrut zu erklären. Aber es hat dann auch wiederum andere Momente, es führt zu tieferen Gesprächen, die man sonst vielleicht nicht hätte. Zum Beispiel habe ich ein sehr gutes Verhältnis zu unseren Seelsorgerinnen, weil da natürlich eine Gemeinsamkeit vorhanden ist.
Was sehr sehr schwierig ist, sind die Weiterbildungen und Fortbildungen. In Deutschland ist es leider so, dass alles aufs Wochenende gelegt wird. Und es ist schwierig, etwas zu finden, was nicht samstags ist. Durch Corona ist das noch komplizierter geworden. Vorher konnte man vielleicht noch irgendwo hinlaufen und zuhören, jetzt findet alles nur noch online statt. Das ist dann natürlich gar keine Option mehr. Und da muss man dann auch wieder kreativ werden.
Dein Alltag in Deutschland ist doch sehr herausfordernd. Was wünschst Du Dir für die Zukunft?
Hannah: Viel wichtiger als Plaketten, Ansprachen oder Feiertage, wäre es einzusehen, dass nicht jeder denselben Alltag und dieselbe Lebensrealität hat. Das gilt ja nicht nur für uns, sondern für Muslime und auch für alle anderen Religionen genauso. So ein bisschen Flexibilität wäre immens wichtig.
Das Interview führten Matvey Kreymerman und Zeev Reichard